„Die Russen sind im Lande“

"Ein Notar" von Marinus van Reymerswalde (1542), davor die Innungslade der Dresdner Kupferschmied-Innung, die nur mit den Schlüsseln dreier Meister geöffnet werden konnte. Darin wurden beispielsweise Lehrbriefe und andere Dokumente verwahrt. Foto: Heiko Weckbrodt

„Ein Notar“ von Marinus van Reymerswalde (1542), davor die Innungslade der Dresdner Kupferschmied-Innung, die nur mit den Schlüsseln dreier Meister geöffnet werden konnte. Darin wurden beispielsweise Lehrbriefe und andere Dokumente verwahrt. Foto: Heiko Weckbrodt

Stadtarchiv in der Dresdner Albertstadt zeigt in einer Sonderausstellung teils ungewöhnlich „verpacktes Wissen“

Dresden-Albertstadt, 26. Juli 2021. Geronnene Vergangenheit kennt viele „Datenbehältnisse“, in denen sie sich manifestieren kann: eine dreifach gesicherte Innungslade, ein Koffer voller Zeitungsausschnitte, ein Stapel alter Floppy-Disketten, Säcke, Klarsichtfolien, Fässer, dicke Aktenordner, verschlossene Folianten… Dr. Marco Iwanzeck und seine Kollegen vom Stadtarchiv bekommen jedes Jahr ganze Rollwagen gefüllt mit diesen Artefakten, die nur darauf warten, für die Nachwelt erschlossen zu werden. „Verpacktes Wissen“ nennen sie diese unerschlossenen Schätze und haben ihnen eine Sonderausstellung im Archiv an der Elisabeth-Boer-Straße gewidmet.

Dr. Marco Iwanzeck an einem für die Ausstellung aufgebautem Behörden-Schreibtisch der vordigitalen Zeit. Der Sat1-Aufkleber auf dem Fernsprecher lässt vermuten, dass dieser Telefonvorläufer sogar noch nach der Wende im Einsatz war. Foto: Heiko Weckbrodt

Dr. Marco Iwanzeck an einem für die Ausstellung aufgebautem Behörden-Schreibtisch der vordigitalen Zeit. Der Sat1-Aufkleber auf dem Fernsprecher lässt vermuten, dass dieser Telefonvorläufer sogar noch nach der Wende im Einsatz war. Foto: Heiko Weckbrodt

Nur 3 Meister gemeinsam konnten Innungslade öffnen

Zu sehen ist dort beispielsweise eine Installation „Zentrale Aktenannahme“, die beispielhaft allerlei Verpackungen versammelt, in denen geschichtsträchtige Artefakte das Archiv erreichen. Gleich daneben: eine Plexiglasbox voller Aktendullis und Büroklammern, die die Archivare aus dem angelieferten Archivgut gefischt haben. Ein paar Schritte weiter ist ein Schreibtisch mit einem urigen Fernsprecher, mechanischer Schreibmaschine, Tacker und anderem Equipment des klassischen Bürokraten aufgebaut. Ein Hingucker findet sich gleich am Eingang zum Vortragssaal: Eine Repro des niederländischen Künstlers Marinus van Reymerswalde, der im Jahr 1542 ein typisches Notarbüro jener Zeit malte. Dafür die erwähnte Dokumenten-Lade der Dresdner Kupferschmiede, die nur mit den drei Schlüsseln dreier Innungsmeister geöffnet werden konnte.

Jedes Jahr fischen die Stadtarchivare zwei große Boxen voller Aktendulllis, Büroklammern und Klarsichtfolien aus den angelieferten Akten. Foto: Heiko Weckbrodt

Jedes Jahr fischen die Stadtarchivare zwei große Boxen voller Aktendulllis, Büroklammern und Klarsichtfolien aus den angelieferten Akten. Foto: Heiko Weckbrodt

Düstere Notiz in der Zeitkapsel

Im Stadtarchiv gelandet sind aber auch die Inhalte von Zeitkapseln. Etwa die für das Rathaus Cotta, in der Klempnermeister Karl Schmerbitz einen düsteren Brief hinterließ: „Das ist eine schwere Zeit. Die Russen sind im Land“, tippte er im Jahr 1947 in seine Schreibmaschine, ganz im Vertrauen darauf, dass diese Kapsel für die nächsten paar Jahrzehnte der Obrigkeit verborgen bleiben würde. Insofern sind viele der Relikte und Dokumente aus der Ausstellung eigentlich eine Fundgrube für Historiker, Soziologen, Zeitgeist-Forscher und andere Wissenschaftler.

Dr. Marco Iwanzeck neben der Installation "Zentrale Aktenannahme“ im Stadtarchiv Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

Dr. Marco Iwanzeck neben der Installation „Zentrale Aktenannahme“ im Stadtarchiv Dresden. Foto: Heiko Weckbrodt

Jedes Jahr ein neuer Kilometer Archivgut

Das Problem dabei: Oft wissen die Archivare im Dresdner Norden gar nicht, was sie zuerst an- und auspacken sollen: 43 laufende Kilometer Archivgut unterschiedlicher Couleur verwalten sie bereits und jedes Jahr kommt ein reichlicher Kilometer Akten hinzu: Akten vor allem, aber eben auch andere Informationsträger. Doch was davon als erstes sichten, restaurieren oder als digitalen Zwilling retten? „Als Historiker denke ich da zuerst an die richtig alten Bücher und Akten und auch die Nutzer drängen sehr darauf, diese alten Bestände endlich zu digitalisieren“, sagt Iwanzeck, der im Archiv die Abteilung für „Auswertung und Benutzung“ leitet. „Gleichzeitig drängen aber ebenso die Akten aus DDR-Zeiten, deren Seiten immer mehr verbleichen.“

Alten Informationsträgern droht das große Vergessen. Dazu gehören in den Archiven beispielsweise Disketten, Analogfilme, gebrannte Daten-CDs und Magnetband-Kassetten, die in den 1980ern auch als Datenträger im Einsatz waren. Foto (bearbeitet): Heiko Weckbrodt

Alten Informationsträgern droht das große Vergessen. Dazu gehören in den Archiven beispielsweise Disketten, Analogfilme, gebrannte Daten-CDs und Magnetband-Kassetten, die in den 1980ern auch als Datenträger im Einsatz waren. Foto (bearbeitet): Heiko Weckbrodt

Disketten mit 15 Jahren Lebensdauer kommen nach 20, 30 Jahren im Archiv an

Das gilt noch mehr für all die alten Disketten, Tonbänder, Magnet-Kassetten, Daten-CDs und USB-Sticks, die teilweise erst jetzt die Archive erreichen, wenn ihre theoretische Lebensdauer bereits abgelaufen ist. Viele der nur pappgeschützten 5,25-Zoll-Disketten beispielsweise –seinerzeit wegen ihrer wabbligen Konsistenz oft „Floppy Disc“ genannt – sind im Durchschnitt nach etwa 15 Jahren nicht mehr lesbar. Die noch auslesbaren Exemplare zumindest erst mal in eine Rechnerwolke („Cloud“) oder ein elektronisches Archiv zu kopieren, bevor der letzte PC mit Diskettenlaufwerk verschrottet ist, wäre dringend geboten. Das könnte man genauso für die VHS-Videokassetten fordern, deren bewegte Bilder mit jedem Jahr immer mehr im großen Rauschen versinken. Doch die personellen, finanziellen und technischen Ressourcen eines Stadtarchivs sind eben begrenzt. „Eigentlich brennt es überall“, sagt der Abteilungsleiter.

Der Registraturschrank gilt als ein Inbegriff von Behörden, Archiven und Bibliotheken alten Sils. Foto: Heiko Weckbrodt

Der Registraturschrank gilt als ein Inbegriff von Behörden, Archiven und Bibliotheken alten Stils. Foto: Heiko Weckbrodt

Prognose: Archive der Zukunft beschäftigen mehr Retro-Computerexperten als Archivare und Historiker

Immerhin haben die Stadtarchivare nun tief in die informationstechnologische Nostalgie-Kiste gegriffen und sich ein Diskettenlaufwerk angeschafft, das sich an einen modernen PC anschließen lässt. Angesichts dieser und weiterer retro-technologischen Herausforderungen schwant dem Geschichtswissenschaftler bereits Arges für seinen Berufsstand: „In Zukunft wird es wahrscheinlich mehr ITler* als Archivare und Historiker in den Archiven geben.“

Die Ausstellung im Überblick

  • Titel: „Verpacktes Wissen – Wir konservieren Stadtgeschichte“
  • Wo: Stadtarchiv Dresden, Elisabeth-Boer-Straße 1
  • Öffnungszeiten: bis zum 24. September 2021 jeweils montags 9-16, dienstags 9-18, mittwochs 9-16 Donnerstag 9-18 und freitags 9-12 Uhr
  • Mehr Informationen im Internet gibt es hier

* gemeint sind Informationstechnologen (IT)

Autor: Heiko Weckbrodt

Quellen: geführte Vor-Ort-Besichtigung im Stadtarchiv, Jahresbericht 2020 Stadtarchiv, Oiger-Archiv

Grafik: M. Arndt
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