Zeitreisender Bauernastronom Palitzsch stellt alles in Frage

Museumsdirektor Peter Neukirch neben einem Bildnis des Bauernastronomen Johann George Palitzsch. Foto: Heiko Weckbrodt

Museumsdirektor Peter Neukirch neben einem Bildnis des Bauernastronomen Johann George Palitzsch. Foto: Heiko Weckbrodt

Palitzschmuseum wird heute 40 – und bricht zu neuen Museumskonzepten auf

Prohlis, 6. Juni 2018. Stellen Sie sich einen gar seltsamen Mann mit gelichtetem Haar, staunenden Augen und barocken Klamotten vor, der ihnen auf der Prager Straße entgegenstürzt. Der Ihnen Fragen in einem altertümlichen Deutsch entgegenschleudert. Ihnen das Smartphone aus der Hand reißt, es schüttelt, ans Ohr hält, die Sucht der Jetzt-Menschen nach diesen Apparaturen zu ergründen sucht. Und der sich ebenso schnell wieder verdünnisiert, wie er aus dem Nichts erschien. Ein Marsmensch? Nein: Johann George Palitzsch (1723-1788), ein hochbegabter Bauernastronom, der eine Zeitreise in das Digitalzeitalter unternommen hat, um es in jedem Punkt zu hinterfragen. Ein Mann „mit den Händen in der Erde und den Blick auf das Universum gerichtet“, so Peter Neukirch, der Direktor des Ein-Mann-Palitzschmuseums in Dresden-Prohlis. Ein Mann also, wie geschaffen dafür, all das, was uns in unserer Gegenwart so selbstverständlich erscheint, mit den Augen des 18. Jahrhunderts wieder in Frage zu stellen – unterhaltsamer kann Bildungsvermittlung kaum sein.

Zehngeschossiger Plattenbau im Modell. Foto: Heiko Weckbrodt

Zehngeschossiger Plattenbau im Modell. Foto: Heiko Weckbrodt

Steinzeitlicher Speerwurf und Denkräume

Solche geplanten Spontanbesuche vermeintlicher „Zeitreisender“ in Schulen, auf öffentlichen Plätzen, im Stadtrat oder auf Dorfplätzen rund um Dresden gehören zu Neukirchs Überlegungen, wie das Museum der Zukunft funktionieren könnte. Denn Bildung müsse wieder Erlebnischarakter bekommen, meint der Direktor. „Viele Museen werden heute wie kleine Unternehmen geführt und verharren in einer ganz eigenen Rhetorik und in wiederkehrenden Formatmustern“, sinniert er. Vielleicht sei es an der Zeit, das Museum wieder zu dem zu machen, was es einmal war: „Ein Tempel der Musen, der Künste.“ Statt Exponate abzulatschen, könnten Schüler am Lagerfeuer Geschichten aus alten Zeiten und kosmischen Utopien lauschen. Haben sie einen Thementag „Steinzeit“, sollten sich Jungen und Mädchen im Speerwurf im Museumshof üben. Und wenn sie eine Reise zum Mars vorhaben, brauchen sie einen an allen Wänden beschreibbaren „Denkraum“, in dem jeder seine Ideen für den großen Flug mit Kreide niederkritzeln kann.

Das ganze Sonnensystem unterm Bauernhof-Dach. In der Mitte Jupiter und Saturn, links (als kleine blaue Kugel) die Erde. Foto: Heiko Weckbrodt

Das ganze Sonnensystem unterm Bauernhof-Dach. In der Mitte Jupiter und Saturn, links (als kleine blaue Kugel) die Erde. Foto: Heiko Weckbrodt

1988 als Gedenkstätte für den Bauernastronomen Palitzsch und das zerstörte Dorf Prohlis entstanden

All dies mag noch etwas fantastisch klingen. Aber dass Neukirch mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln etwas erreichen kann, hat er bereits unter Beweis gestellt. Dazu muss man sich an die Geschichte des Palitzschmuseums erinnern, das heute vor genau 40 Jahren gegründet wurde: Um 1977 herum, als das Wohnungsbaukombinat einen Plattenbau nach dem anderen aus dem Prohliser Lehm stampfte, hatten Siegfried Koge und andere engagierte Bürger in Eingaben an staatliche Stellen darauf gedrungen, dass etwas vom alten Dorf Prohlis erhalten werden solle. Ehren wollten Koge & Co. vor allem den Bauern, Astronomen und Tüftler Palitzsch. Der wohl berühmteste Sohn von Prohlis hatte unter anderem die Verbreitung von Kartoffel und Blitzableiter in Sachsen befördert und 1758 die Rückkehr des Halleyschen Kometen entdeckt. Und als Bauer passte er eigentlich gut in den ideologischen Kram der SED. Trotzdem dauerte es dann noch mal elf Jahre, bis das Heimat- und Palitzschmuseum Prohlis tatsächlich gegründet wurde. Es eröffnete am 6. Juni 1988 im letzten übrig gebliebenen alten Bauernhof von Prohlis. In dem hat Palitzsch zwar nie gewohnt, dennoch bekam der Komplex schließlich den Namen Palitzschhof verpasst.

Das Palitzschmuseum im sogenannten Palitzschhof am alten Anger von Prohlis. Foto. Heiko Weckbrodt

Das Palitzschmuseum im sogenannten Palitzschhof am alten Anger von Prohlis. Foto. Heiko Weckbrodt

Anfangs ein kunterbunter Sammlermix

Auch, weil von Palitzsch kaum etwas Originales erhalten blieb, sammelte das Museum lange Zeit so ziemlich alles, was die Prohliser dem ersten Museumsleiter Koge in die Hand drückten. Kurz nach Koges Ruhestand schlug der Stadtrat das Haus 2003 den Städtischen Museen zu, ließ den Palitzschhof bis 2005 sanieren und quartierte wenig später auch einen Teil der Jugend- und Kunstschule dort ein.

Clevere Dauerausstellung auf kleinem Raum geformt

2007 übernahm Neukirch die Leitung. Zusammen mit ehrenamtlichen Helfern hat er das Museum seitdem vollständig umstrukturiert. Seitdem sind die Besucherzahlen stetig gestiegen – auf zuletzt 3669 Gäste im Jahr 2017. Aus der Heimatstube über die Alt-Prohliser Dorfgeschichte wurde eine sehr modern anmutende Dauerausstellung über die Prohliser Geschichte, den Menschen Palitzsch und dessen großes Thema: die Astronomie. Das Ein-Mann-Museum schlägt inzwischen clever und multimedial den Bogen von der Steinzeit bis in die Zukunft: Der Besucher sieht Mammutzähne und Faustkeile von alter Prohliser Flur, kann in den Korrespondenzen von Palitzsch schmökern, sinniert über den utopischen Anspruch und die Realität des Plattenbauviertels Neu-Prohlis, sieht die Voyager-Sonde unterm Bauernhof-Himmel in den interstellaren Raum schweben und die Sternbilder in einem Digitalplanetarium vorbeiziehen. Und erahnt, wie klein wir alle gegen das Weltall sind, wenn sich per Online-Livestream mitten in Prohlis ein Beobachtungsfenster aus der Internationalen Raumstation ISS hinunter zur Erde öffnet.

 

Bald VR-Besuche im alten Dorf möglich

Dieser Aufbruch zum Mini-Museum der Zukunft im alten Gemäuer ist auch längst noch nicht zu Ende. Beispielsweise arbeitet die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Dresden derzeit an einer Station für „Virtuelle Realitäten“ (VR). Dort sollen Besucher das längst abgerissene alte Prohlis per Datenbrille und Computermodell erwandern können. Auch hofft Neukirch in naher Zukunft auf einen Zusatzraum für das Museum, in dem er Sonderausstellungen zeigen und neuartige Museumskonzepte vor allem für Kinder erproben will.

Palitzschhof wird erweitert

Denn die Stadt hat inzwischen den zweiten Flügel des „Palitzschhofes“, in dem zunächst der Sero-Abfallhandel und dann ein Getränkemarkt residierte, aufgekauft. Für diesen Bau auf der anderen Hofseite hatte der Stadtrat bereits vor einigen Jahren eine Sanierung beschlossen, um dort ein Bürgerhaus für Prohlis zu ermöglichen. In zwei bis drei Jahren könnte es soweit sind, spekuliert Neukirch. Danach werden womöglich im Stammhaus auch neue Räume fürs Museum frei. Und dann könnte sich der Direktor endlich als Palitzsch verkleiden – und die Dresdner mit seinen staunenden Fragen systematisch verwirren.

Autor: Heiko Weckbrodt

Grafik: M. Arndt
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